Neurodiversität bezeichnet die individuellen, angeborenen Besonderheiten der Informationsverarbeitung im Gehirn, die sich auf die Wahrnehmung und damit auf die persönliche Entwicklung auswirken. Diese neurologische Disposition kann mehr oder weniger starken Einfluss auf das Verhalten haben. Je nach Kontext bietet sie Vor- oder Nachteile.
In Kombination mit der individuellen Entwicklungsgeschichte prägt sie die Persönlichkeit und die momentane Fähigkeit, das Leben und die sozialen Beziehungen zu gestalten.
Hintergrund
Mit Neurodiversität bezeichnen wir heute die Mannigfaltigkeit menschlichen Erlebens und Verhaltens, die durch Unterschiede in der Verarbeitung von Reizen durch unser Gehirn zustande kommen.
Damit unser Gehirn Reize optimal filtert, zu sinnvoller Bedeutung integriert und damit wirksame Handlungen steuert, muss eine unüberschaubar grosse Zahl von molekularen und zellulären Strukturen sowie physiologischen Prozessen perfekt ineinandergreifen. Es ist in der Biologie ganz normal, dass immer wieder kleine Abweichungen von der optimalen Konfiguration vorkommen, ohne dass die Funktionsfähigkeit eines Organismus dadurch gefährdet ist. Ab einer kritischen Menge kleiner, im Einzelnen unbedeutender Abweichungen kann ein System instabil werden. In der Folge kann sich ein Ungleichgewicht in die eine oder andere Richtung entwickeln.
Je komplexer ein System ist, umso anfälliger ist es, aus dem optimalen Gleichgewicht zu kommen. Entsprechend anfällig ist unsere neuronale Reizverarbeitung. Nicht bei allen Menschen funktioniert sie genau gleich und nicht bei allen gleich reibungslos.
Ein Grossteil dieser angeborenen Variationen sind Teil der unterschiedlichen Färbungen unserer Persönlichkeiten. Bei einem Teil dieser Variationen können der betroffenen Person Schwierigkeiten entstehen, die Reize aus der Welt zu verarbeiten und sich intuitiv in die Welt einzufügen. Gewisse typische Konstellationen, die häufig zu Behandlungswunsch geführt haben, sind in der Psychiatrie zu Diagnosen formuliert worden: Dyslexie, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder Autismus, um Beispiele zu nennen.
Neurodiversität ist ein neuer Begriff, der weniger aus der Perspektive der klinischen Klassifikation von Pathologien auf diese individuellen Besonderheiten schaut, sondern sie als normale Variationen der Natur betrachtet. Erst sekundär sind sie mit Schwierigkeiten verbunden, wenn sie in der Interaktion mit der Welt, in der die Betroffenen leben, zu Beschwerden und gegebenenfalls Abklärungs- und Behandlungswunsch führen.
Autismus
Man kann sich vorstellen, dass angeborene Ungleichgewichte in der Reizverarbeitung durch unser Gehirn sehr unterschiedlich stark ausgeprägt und unterschiedlich ausgedehnt über die verschiedenen anatomischen und funktionellen Regionen des Gehirns verteilt sein können. Unter Autismus (resp. unter der klinischen Diagnose Autismus-Spektrum-Störung) verstehen wir heute eine generalisierte, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägte Form eines Reizverarbeitungsungleichgewichts. Das heisst, es sind alle Bereiche der Reizverarbeitung betroffen: die Sinneswahrnehmung der Aussenreize wie die Wahrnehmung der Signale aus dem inneren des Körpers
Bei dieser Form der Informationsverarbeitung führt eine inflexible Übergewichtung von Sinnesreizen im Verhältnis zum Vorwissen zu Schwierigkeiten, aus überflutenden Reizen Bedeutung zu extrahieren und ein entsprechend sinnvolles Weltbild zu generieren. Folgen sind Desorientierung, ein chronisches Gefühl des Unvorbereitetseins und ein Mangel an intuitiver Handlungssteuerung.
Diese Besonderheiten wirken sich am stärksten in dynamischen Umgebungen (z.B. sozialen Interaktionen) erschwerend aus. In einer stabilen Umgebung mit klar ersichtlichen Strukturen bietet diese Besonderheit der Reizverarbeitung keine Schwierigkeiten. In Bereichen der Welt und des Lebens, in denen das Erkennen kleinster Veränderungen nützlich ist, ist diese Art der Reizverarbeitung ein Vorteil.
Meine Haltung
Mir gefällt die wertneutrale Sicht der Neurodiversität auf Besonderheiten der menschlichen Biologie. Neurodiversität führt zu unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt und zu unterschiedlich homogenen resp. inhomogenen Leistungsprofilen. Sehr oft gehen spezifische Beeinträchtigungen in einem Bereich mit spezifischen Begabungen in anderen Bereichen einher.
Seit ich neue Erklärungsmodelle zum Verständnis des menschlichen Geistes und seiner besonderen Funktionszustände und Entwicklungswege (Bayesian Brain Theory, Predictive Coding) kennen gelernt habe, schaue ich aus dieser mechanistischen Perspektive auf das, was ich selber erlebe und was mir meine Patientinnen und Patienten berichten. Ich habe dabei festgestellt, dass diese Sicht sehr plausibel Stärken und Schwächen der persönlichen Natur als unterschiedliche Aspekte der gleichen Besonderheit erklärt. Erfahrungsgemäss erleichtert dies die Akzeptanz von Eigenheiten, die einem immer wieder Schwierigkeiten bereiten oder einen übermässig Energie kosten. Zudem fällt es leicht, aus dieser Perspektive eine Intuition zu entwickeln, wie die Schwierigkeiten verstanden, respektive erklärt werden können, und was zu tun ist, um das Erleben und Entwickeln positiv zu beeinflussen.
Aus dieser Position stammt meine Haltung, dass es für jeden Menschen wichtig ist, sich selber gut kennen zu lernen, um sich zu verstehen und lieben zu lernen. Ich sehe das Erkennen der eigenen Natur als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung zur Überwindung von Schwierigkeiten und nicht als Rechtfertigung für Stillstand und Rücksichtsforderung an die Umwelt.
Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, die Umwelt über besondere Bedürfnisse von Mitmenschen aus dem ganzen neurodiversen Spektrum aufzuklären, um gegenseitige Rücksichtnahme zu erleichtern.
Eine Abkehr vom üblichen Blick auf Stärken und Schwächen hin zu einem Fokus auf kooperatives Miteinander kann den Denk- und Handlungsspielraum von allen erweitern und damit Leistungen ermöglichen, die weit über die Möglichkeiten eines Individuums oder einer homogenen Gruppe hinausgehen.